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Kulturelle Umbrüche

Menschen streben nach innerem Zusammenhang und Widerspruchslosigkeit. Daher steht ihre Weltanschauung normalerweise in Einklang mit ihren Alltagserfahrungen. Und die Alltagserfahrungen der Menschen unserer Zeit unterscheiden sich grundlegend von den Lebenserfahrungen, die in die jüdisch-christliche Tradition eingegangen sind. Das Alte Testament entstand in einer Hirtengesellschaft. In seinen Symbolen – beispielsweise Gott als Hirte- spiegelt sich die Weltsicht einer Hirtengesellschaft wider.

Als das Neue Testament verfasst wurde, waren die Juden keine Hirten mehr, sondern überwiegend Bauern. Daher bildet das Neue Testament eine Agrargesellschaft mit anderen Regeln und einer anderen Weltsicht ab. Heute leben wir in einer entwickelten Industriegesellschaft, in der Computer viel eher zum täglichen Leben gehören als Schafe. Folglich besteht ein gedankliches Missverhältnis zwischen dem traditionellen normativen System und der Welt, die den meisten Menschen aus unmittelbarer Erfahrung bekannt ist. Weder die sozialen Normen noch die Symbole noch die Weltsicht der etablierten Religionen sind heute noch so überzeugend und folgerichtig wie in ihrer ursprünglichen Umgebung.

In der Agrargesellschaft war die Menschheit auf Gedeih und Verderb den unergründlichen und unberechenbaren Naturgewalten ausgeliefert. Da man über die Ursachen wenig wusste, machten die Menschen für alle Ereignisse menschenähnliche Geister oder Götter verantwortlich. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung lebte von der Landwirtschaft und musste akzeptieren, was vom Himmel kam, ob es nun Sonne war oder Regen. Man betete um gutes Wetter, um Schutz vor Krankheit und vor Insektenplagen.

In der Industriegesellschaft verlagerte sich die Produktion zunehmend nach drinnen in eine von Menschenhand geschaffene Umgebung. Man wartete nicht auf den Sonnenaufgang oder auf den Wechsel der Jahreszeiten, sondern knipste das Licht an oder drehte die Heizung auf. Um eine gute Ernte musste man nicht mehr beten, denn die Produktion hing von Maschinen ab, entworfen und gewartet durch menschliche Erfindungsgabe.

Und mit der Entdeckung von Krankheitserregern und Antibiotika galten auch Krankheiten nicht mehr als Strafe Gottes. Sie waren nun ein Problem, das der Mensch in den Griff bekommen konnte.

Über die Jahrhunderte hinweg veränderten sich die Alltagserfahrungen der Menschen so grundsätzlich, dass es nur natürlich war, wenn sich auch die herrschende Kosmologie veränderte. In der Industriegesellschaft war die Fabrik das Zentrum des produktiven Strebens, und dazu passte ein mechanistisches Weltbild. Gott galt nunmehr als der große Uhrmacher, der das Universum konstruiert und dann weitgehend sich selbst überlassen hatte. In dem Maße, wie der Mensch seine Umwelt beherrschte, trat Gott in den Hintergrund. Materialistische Ideologien entstanden, die eine religionslose Interpretation der Geschichte vorlegten und weltliche, allein durch Technik in Menschenhand erreichbare Utopien formulierten.

Mit dem Übergang zur postindustriellen Gesellschaft werden sich die vorherrschenden Ansichten über den Kosmos vermutlich weiter verändern, allerdings nicht genau in dieselbe Richtung wie in der frühen Phase der Industrialisierung. In den Vereinigten Staaten, in Kanada und Westeuropa arbeitet die Mehrzahl der Erwerbstätigen nicht mehr in Fabriken. Die Menschen bewegen sich nicht mehr in einer mechanistischen Umgebung, sondern verbringen ihre produktive Zeit im Umgang mit Menschen und Symbolen. Die menschlichen Bestrebungen richten sich immer weniger auf die Herstellung materieller Objekte, sondern auf Kommunikation und Informationsverarbeitung. Innovation und Wissen sind die entscheidenden Produkte.

Ronald Inglehart: Kultureller Umbruch. Wertewandel in der westlichen Welt. Campus Verlag, Frankfurt/New York 1990, S. 229-230)

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